Die Diagnose "Fragiles-X-Syndrom" betrifft nicht nur das Kind, sondern ist aufgrund der Vererbung eine Familiendiagnose:
Die Mutter des Kindes ist immer Anlageträgerin [1], ebenso ein Großelternteil mütterlicherseits. In vielen Familien gibt es weitere Menschen, die Träger der Prä- oder Vollmutation sind: Geschwister des Kindes oder der Mutter, Cousins / Cousinen und deren Kinder sowie entferntere Verwandte können betroffen sein. Meist empfinden die Eltern die Mitteilung der Ärzte "Ihr Kind hat einen Gendefekt" als schockierend, oft aber darüber hinaus auch als entlastend, da man nun endlich weiß, worin die Auffälligkeiten des Kindes begründet sind.
Die Tragweite dieser Diagnose ist groß. Alle Eltern eines Kindes mit FraX-Syndrom sehen sich plötzlich in einem viel stärkeren Maße als andere Eltern gesunder Kinder mit der Frage nach der Entwicklung des Kindes und seinem Platz im Leben konfrontiert. Viele Ängste und eine große Trauer um verlorene Wünsche und Hoffnungen bestimmen die Zeit nach der Diagnosemitteilung. Zumindest bei einem Jungen lassen die Ärzte meist keinen Zweifel daran, dass man sich von der Vorstellung, das Kind könnte irgendwo zwischen Hauptschulabschluss und Nobelpreis seinen Weg finden, verabschieden muss. Wird die Diagnose bei einem Mädchen gestellt, seien die Entwicklungsmöglichkeiten sehr viel offener, man müsse abwarten, ob überhaupt und in welcher Form seine Entwicklung beeinträchtigt sei.
Die Erfahrung zeigt, dass Eltern sich mit der Diagnose oft alleine gelassen fühlen. Manche Familien haben das Glück, eine gute humangenetische Beratung zu erfahren, innerhalb derer wichtige Aspekte und Konsequenzen der Diagnose besprochen werden, andere erhalten die Mitteilung nur durch ihren Kinderarzt, der im ungünstigen Fall vorher einmal kurz nachgeschaut hat, was zum Fragilen-X-Syndrom in seiner Online-Datei steht. Je nachdem, auf welcher Datenbank der Arzt nachschaut, kann es sein, dass er den Eltern anschließend ein Paper in die Hand drückt, auf dem zu lesen ist: "Fragiles-X oder Marker-X-Syndrom. Synonyme: Erblicher Schwachsinn, Idiotie"... Leider wissen wir aus eigener Erfahrung und aus Gesprächen mit anderen Betroffenen, dass in vielen Fällen immer noch ein großes Informationsdefizit herrscht und eine umfassende Aufklärung häufig nicht erfolgt. So erhalten auch heute noch Familien falsche Informationen zur Vererbung des Fragilen-X oder werden - mit weitreichenden Konsequenzen - falsch beraten im Hinblick auf die weitere Familienplanung. Und dass Großväter, bisweilen auch Großmütter der Kinder an einer neurodegenerativen Erkrankung leiden können, wissen die wenigsten Mediziner. Noch seltener aber wird mit den betroffenen Familien besprochen, dass gerade die Gehirnforschung, die pädagogische Forschung und die Entwicklung vielversprechender Medikamente in jüngster Zeit Anlass zur Hoffnung geben, dass die Zukunft unserer Kinder genetisch nicht so vorbestimmt ist, wie Ärzte das oftmals darstellen. Vor allem darüber möchten wir auf unserer Website informieren und uns austauschen.
Wir hoffen, uns gegenseitig durch das Bereitstellen gut recherchierter und aktueller Informationen unterstützen zu können und laden alle betroffenen Familien und interessierten Fachleute ein, sich an unserem Austausch im FORUM zu beteiligen und dieses mitzugestalten.
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[1] Nur in sehr seltenen Ausnahmefällen kann es nach derzeitigem Stand der Wissenschaft auch ohne mütterliche Prämutation zu dem Vollbild eines Fragilen-X-Syndroms beim Kind kommen. Dieses wird in einem solchen Fall nicht durch eine Vollmutation, sondern durch eine neu entstandene Punktmutation oder Deletion verursacht. Eine Deletion bezeichnet den Verlust eines Genabschnittes (in diesem Fall des FMR1-Gens), der sehr selten auch ohne familiäre Vorgeschichte als Spontanmutation auftreten kann. Für die Mutter eines in dieser Weise betroffenen Kindes gibt es kein Vererbungsrisiko bei einem weiteren Kind.